J. Garz: Wissensgeschichte der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder

Cover
Titel
Zwischen Anstalt und Schule. Eine Wissensgeschichte der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder in Berlin, 1845–1914


Autor(en)
Garz, Jona Tomke
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karin Priem, Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History, University of Luxembourg, Esch-sur-Alzette, Luxembourg

Der vorliegende Band widmet sich der Rolle von Formularen in der Wissensgeschichte der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder und damit einer seriellen Quellengattung, die von der Autorin in Anlehnung an Friedrich A. Kittler (1985) als ein spezifisches Aufschreibesystem analysiert wird.1 Im vorliegenden Fall geht es um Personalbogen, deren Einträge über verschiedene medizinische und pädagogische Institutionen hinweg vorgenommen wurden. Sie brachten jene Kinder hervor, die als sogenannte schwachsinnige Kinder einzeln und als Gruppe beobachtet, aktenkundig gemacht und verwaltet wurden. In der Tat waren es Personalbogen, die solche Klassifizierungsvorgänge offiziell ermöglicht und besiegelt haben und insofern kann diese Studie auch als Beitrag zur Erforschung der materiellen Kultur an der Schnittstelle von Bildung, Medizin, und Verwaltung verstanden werden. Formulare und personifizierte Akten über sogenannte schwachsinnige Kinder definierten nicht nur den operativen Modus und damit das Handeln von Verwaltungen, sondern sie fungieren auch als epistemische Objekte beziehungsweise als Vertrauen stiftende Technologien, die sowohl seriell in Bezug auf das quantitativ erfassbare und damit vermeintlich verallgemeinerbare und objektivierbare Wissen als auch individuell in Bezug auf die Verteilung und Zuweisung von Chancen und die Festlegung von Grenzen der Bildbarkeit ihre Macht entfalteten.2 Jona Garz kann zeigen, wie die materielle Kultur, wie das Handhaben und das Zirkulieren von Formularen und Akten Institutionen-, Professions-, Personen- und Verwaltungsgeschichte zusammenfügt und dadurch alle Beteiligten und alle institutionellen Perspektiven in ein gemeinsames Unterfangen verstrickt.3

Eine besondere Leistung der Arbeit ist die Einbettung der Personalbogen in die zweigeteilte Ratio der sogenannten Idiotenanstalt auf der einen Seite und der Gemeindeschulen beziehungsweise Hilfsschulen auf der anderen Seite. Während des gesamten Untersuchungszeitraums gab es kein verlässliches und allgemein anerkanntes Krankheitsbild der Idiotie beziehungsweise des Schwachsinns von Kindern. Es blieb auch unklar, ob es sich um eine erworbene oder angeborene Auffälligkeit handelte. Diese Situation machte das „schwachsinnige“ Kind zum Gegenstand vieler Expertenmeinungen und statistischer Erhebungen. Auf der Seite der Psychiatrie konnte sich „das Konzept der Vererbung“ (S. 99) sowie beobachtbare pathologische Abweichungen der Gehirnfunktionen mehr oder weniger als Ursache des Schwachsinns durchsetzen, während ein Blick auf die Schule zeigt, dass dort vor allem die mangelnde Leistung und das wiederholte Sitzenbleiben ausschlaggebend waren. Insofern setzte die Schule weniger auf Beobachtung und Anamnese, sondern auf eine quantifizierbare und objektivierbare Differenz zu sogenannten normalen Kindern, die wiederum aufgrund der Verschränkung von Schulnoten und Lebensalter bestimmt wurde. Diese konzeptuellen Unterschiede zwischen Medizin und Pädagogik trugen auch zur Unentschiedenheit staatlicher Behörden bei, wenn es darum ging, ob schwachsinnige oder schwachbegabte Kinder in gesonderten psychiatrienahen oder in gemeindeschulnahen Einrichtungen untergebracht beziehungsweise unterrichtet werden sollten. Die Befürwortung spezieller Hilfsschulen durch die Behörden sollte sich langfristig durchsetzen und die Einführung von einheitlichen Personalbogen für „schwachsinnige“ Kinder am Beginn des 20. Jahrhunderts macht deutlich, dass das medizinische Prinzip der Beobachtung endgültig in den Nebenklassen der Berliner Gemeindeschulen (später Hilfsschulen) Einzug gehalten hatte. Der Personalbogen als soziales und epistemisches Objekt repräsentierte durch seine Aufteilung zudem die geteilte Autorität zwischen Pädagogik und Medizin, die der Verwaltung die Führung überließ und damit nicht nur Konflikte reduzierte, sondern auch die Effizienz der Abläufe steigerte. Da das medizinische Wissen uneindeutig blieb, konnte sich schließlich die Expertise der pädagogischen Berufe besser durchsetzen zumal von dieser Seite nicht nur quantitativ in Bezug auf schulische Leistungen in der Phase der Selektion „schwachsinniger“ Schülerinnen und Schülern, sondern auf lange Sicht auch qualitativ aufgrund der Ergebnisse intensiver Beobachtung argumentiert wurde. Insgesamt war der Personalbogen ein großer Erfolg für die Hilfsschullehrerinnen und -lehrer, da der Bogen der pädagogischen Expertise auch bei Militär und Gerichten zu Anerkennung verhalf.

Die inhaltliche und soziale Einflussnahme von seriell eingesetzten und gleichermaßen personifizierten Formularen hätte in der vorliegenden Arbeit deutlicher und wesentlich konsequenter herausgearbeitet werden können. So werden in dem ansonsten innovativen und anregenden Buch immer wieder Rückgriffe in die traditionelle Institutionen- und Personengeschichte gemacht. Diese Passagen hätten meiner Meinung nach gewonnen, wenn sie weniger als historische Kontextualisierung der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder geschrieben worden wären. Wünschenswert wäre eine stärkere Betonung der Kulturgeschichte der psychiatrischen und pädagogischen Praktiken des Aufschreibens, des Beobachtens, des Vergleichs, der Selektion, der Standardisierung von Abweichungen, der Dokumentation, der Nutzung von Verwaltungsvordrucken sowie der Gestaltung von Aktenplänen und Verwaltungsvorschriften gewesen, die diese Praktiken als Dreh- und Angelpunkt institutioneller Entwicklung analysiert hätte. Nicht zuletzt haben diese praxeologischen Zusammenhänge das Personal und die Klientel der Einrichtungen für „schwachsinnige“ Kinder in ihre spezifische Logik verstrickt und entsprechende Sichtweisen und Zielsetzungen hervorgebracht.4

Die eher an der Oberfläche gehaltene Analyse der materiellen Kultur und der kulturellen Praktiken innerhalb der Institutionen für „schwachsinnige“ Kinder sowie deren behördliche Verwaltung und Überwachung betrifft auch die Ausdifferenzierung verschiedener Bedeutungsebenen und -verschiebungen, die durch die Zirkulation, den Verbleib und die Art der Lagerung von Akten im Berlin der Jahrhundertwende stattgefunden haben.5 Neben der historischen Analyse des kompositorisch angelegten Plots der Personalbogen als Medium der professionellen Kommunikation und als Verwaltungsinstrument wäre es wichtig, genauer zu erfahren, wie sich deren Bedeutung, Nutzenbarmachung und Einfluss durch die Weitergabe beziehungsweise das Wandern von einer Institution und von einer Profession zur anderen verschoben und welche neuen Bedeutungsebenen sich durch die lange Biografie dieser Formulare, deren Aufbewahrung in einem staatlichen Archiv und deren (erneute) Nobilitierung als Forschungsgegenstand erschlossen haben.

Ich wünsche dem Buch eine erfolgreiche und breite Rezeption. Mein großes Bedauern gilt der Qualität der Abbildungen, die der Verlag in Verkennung der Bedeutung der Personalbogen als „kleiner Form“ (S. 12) stark vernachlässigt hat.

Anmerkungen:
1 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme, 1800–1900, München 1985.
2 Zum Problem der Konkurrenz zwischen fachmännischer Expertise und quantitativ hergestellter Objektivität siehe Theodore M. Porter, The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton, NJ 1996.
3 Vgl. dazu auch Sabine Bollig / Helga Kelle / Rhea Seehaus, (Erziehungs-)Objekte beim Kinderarzt. Zur Materialität von Erziehung in Kindervorsorgeuntersuchungen, Zeitschrift für Pädagogik, 58. Beiheft, 2012, S. 218–237. Der Beitrag widmet sich der Analyse des Mutter-Kind-Passes und des Untersuchungsheftes für kleine Kinder auf der Basis der ATN-Theorie.
4 Ganz ähnliche Praktiken wurden auch im Kontext der Erziehung sogenannter armer und verwahrloster Kinder im 19. Jahrhundert angewandt. Armenbehörden nutzten selbst entworfene und teilweise handgemachte Formulare zur Herstellung eines bürokratischen Vorgangs, der die Einweisung eines Kindes in eine Anstalt festlegte und die weitere Entwicklung dieses Kindes auch über die Entlassung hinaus dokumentierte, vgl. Karin Priem, Die Geschichte der evangelischen Korrektionsinstitution Rettungshaus in Württemberg, 1820–1918. Zur Sozialdisziplinierung verwahrloster Kinder, Köln 1994; Susanne Regener, Fotografische Erfassung, München 1999, widmet sich in ihrer Studie der systematischen Erfassung und Sichtbarmachung von Straftätern und Straftäterinnen durch vergleichbare Aufschreibesysteme.
5 Vgl. Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/